Charakterspende I

Er war sehr schüchtern und vorsichtig gewesen, hatte sich nie getraut, etwas zu sagen und wäre am liebsten im Boden versunken, wenn er mit fremden Menschen sprechen sollte. Insbesondere, wenn es um das andere Geschlecht gegangen war. Das war zumindest bis zu seiner Charakterspende so gewesen.

Vor seiner Charakterspende hatte er sich immer gewünscht anders zu sein. So selbstbewusst auftreten zu können, wie die Menschen, die er aus der Ferne immer so bewundert hatte: Menschen, die frei sprechen konnten, ohne den Blick zu senken, und ohne nach jedem zweiten Halbsatz nervös ihren eigenen Speichel herunterschlucken zu müssen, nach Worten suchend.

Er hatte immer den geraden, aufrechten Gang der anderen bewundert, den Kopf hoch in die Luft gehoben, den Blick voll nach vorne und geradeaus. Und nicht wie er zum Boden gesenkt, unbeholfen und ausweichend.

Die Charakterspende war ein seltsames Erlebnis gewesen. Vorher hatte er sich die Profile der ganzen Spender angesehen, Männer, Frauen, ihre anonymisierten Profile, die simulierten Silhouetten ihres Gangs, ihrer Gesten und Mimiken, die Statistiken zu ihren Verhaltensweisen.

Und er hatte sich selbst sein Traumprofil aussuchen dürfen, projiziert auf ein generiertes Modell seiner eigenen Person. Er hatte sich den Gang eines Mannes ausgesucht, der ihm besonders imponiert hatte, dieser feste Schritt, niemals an sich selbst zweifelnd, voller Selbstvertrauen in die Zukunft schreitend.

Als Charaktereigenschaften war es eine allgemeinere Mischung aus Mut, Selbstvertrauen und Stärke geworden – nicht den Charakter einer einzelnen Person, sondern die besten Eigenschaften, die sein Wunschselbst so leuchten lassen würden, wie er es immer im Geheimen geträumt hatte.


Er war erstaunt gewesen, wie schnell die Charakterspende gewirkt hatte.

Zwei Darmfloraspenden mit einem aus seinem Wunschprofil zusammengestellten Bakterien. Und mehrere eineinhalbstündige Sessions über zwei Wochen, in dem Behandlungsraum, in dem er zunächst einen Mix aus psychoaktiven Drogen gespritzt bekam, um dann einen Helm mit Elektroden aufgesetzt zu bekommen, der sein Gehirn von aussen langsam unter ausführlichen Beobachtung in die neue Form massierte.

Natürlich hatte er vorher eine ausführliche Beratung über sich ergehen lassen, mit all den potentiellen Risiken und der Nicht-Wiederherstellbarkeit seiner alten Persönlichkeit. Aber all die Einwände waren wie im Nebel an ihm vorbeigerauscht – zu fest war er davon überzeugt, dass es der einzige Weg für ihn war, in seinem Alter noch ein erfolgreiches Leben führen zu können, die verlorenen Jahre wieder aufzuholen. Was hatte diese Frau schon für eine Ahnung, wie sein Leben bisher ausgesehen hatte. Keiner konnte das nachvollziehen.



Aber jetzt, Wochen nach der Charakterspende war sein altes Leben und seine alte Persönlichkeit nur noch ein schaler Schatten in seiner Erinnerung: Grau und unkonkret. Er konnte sich zwar genau daran erinnern, wie er sich damals immer Verhalten hatte, wie unfähig er in sozialen Situationen gewesen war. Aber er hatte keine Vorstellung davon, wie es sich angefühlt hatte. All das war verblasst, vor seiner neuen strahlenden Persönlichkeit.

Endlich musste er sich nicht mehr verstecken und unwohl fühlen. Endlich konnte er vor Leute treten und einfach sprechen, ohne dass es in seinem Kopf wirbelte, was die anderen wohl über ihn denken würden und wie sehr sie ihn verachtet hatten.

Und so nutze er es aus und suchte die Geselligkeit, ging in Bars, Clubs, auf Veranstaltungen und sprach Leute direkt an.

Insbesondere Frauen waren das Ziel – er hatte schließlich die vertane Zeit der letzten Jahrzehnte nachzuholen. Wie er sich gewünscht hätte, wenn die Charakterspende schon in seiner Pubertät möglich gewesen wäre.


Aber heute war wieder eine besondere Gelegenheit, seine neuen Kräfte einzusetzen: Er war extra in die Hauptstadt gereist, wo ihn niemand in seinem alten Charakter kannte, und hatte sich für ein paar Tage Hotel genommen.

Voller Erwartung scannte er den Raum nach attraktiven Gesprächspartnerinnen.

Mehrere ließ er nach dem ersten Augenschweif direkt fallen: Zu klein, zu dünne Lippen. Eine andere stand ihm zu schräg, ein wenig vogelartig. Eine andere hatte eindeutig zu große Füße. Es mussten schon Frauen sein, die zu seinem neuen Charakter passten.

Endlich erfasste sein Blick zwei nebeneinander stehende Frauen. Sein Herz schlug schneller, erhebend!

Zielgerichtet schritt er auf sie zu, ließ die anderen Menschen in der Menge unbeachtet neben sich liegen. Endlich!

Die beiden Frauen, zuvor vertieft in ein Gespräch miteinander, verstummten, und schauten ihm bewundern entgegen: Wie er auf sie zuschritt. Ohne umschweife schaute er Ihnen abwechselnd direkt in die Augen und stellte sich mit dem größten Selbstverständnis vor und lehnte sich dann lässig an den Stehtisch an dem sie standen.

Voller warmer Aufregung registrierte er, mit welcher Bewunderung, sie ihn ansahen und an seinen Lippen hingen. Voller selbstbewusster Gelassenheit fing er an, über sich selbst zu reden. Natürlich war er selbst nicht so wichtig, aber er spürte, wie sehr sie hören wollten, was er mitzuteilen hatte.

Und wieso sollte er ihnen nicht etwas von dem Licht seines neuen Charakters abgeben?

So sprach er voller Humor, voller Wissen, voller Grosszügigkeit. Er spürte die Kraft und die Ausstrahlung, die sich wie Wellen um ihn herum ausbreiteten. So sollte es sein.

Er kostete das Gefühl im Vollen aus, sog es in sich auf, speicherte es tief in seiner Erinnerung. Das war seine Zukunft.

Als er endlich genug hatte, verabschiedete er sich, aber nicht, ohne die beiden Frauen für den späteren Abend an die Bar einzuladen.



Nachdem er gegangen war, voller selbsterfüllten Selbstbewusstseins, dass die Welt nun seine war – dass er nicht einfach nur Zuschauer, sondern ihr neuer Mittelpunkt war.

Die beiden Frauen mit denen er gesprochen hatte, atmeten erleichtert auf, und seufzten kopfschüttelnd:

"Jesus Christ! What an asshole!"