Frau Barfuss

Es ist immer das Gleiche. Zuerst denkt man, da sei ein Prinz und eine Prinzessin, ein Drache, eine Witwe und böse Stiefmutter, furchtbare Gefahren und ein glückliches Ende für alle, die es verdient haben. 

Doch Herr und Frau Barfuss wussten es besser.  

 

Frau Barfuss war inzwischen so an die vierzig. (Eigentlich war sie schon älter, aber sie redete sich und anderen recht erfolgreich ein, die vierzig gerade erst überschritten zu haben.) Ihr Mann war älter (real wie auch eingeredet) und hatte eine angehende Glatze, die er eine Zeit lang ziemlich erfolglos mit Haarfärbemittel und Toupee zu verstecken versucht, dies inzwischen aber aufgegeben hatte. 

Frau Barfuss hatte ihn reichlich früh geheiratet, in einem Anfall von »Ich-will-eine-glückliche-Familie«, aber das hatte nie so richtig funktioniert, und für Kinder war es nach zahlreichen erfolglosen Anläufen nun zu spät. 

Sie hatte sich eigentlich immer einen Cary Grant als Mann gewünscht — wäre allerdings in Grund und Boden versunken, wenn es einem Mr. Grant eingefallen wäre, für nur eine Sekunde mit ihr zu flirten. Ihr Mann dagegen war ein typisch blasser Deutscher, zwar nett und nach außen auch sehr rücksichtsvoll, aber völlig humorlos, ohne Ausstrahlung und dazu noch vollkommen uninteressant im Bett. 

Er wirkte vom ersten Anblick her schon völlig asexuell, aber im Bett wurde er komplett zu einem ungelenken Grundschullehrer, der einmal seiner Brille beraubt wahrscheinlich nicht einmal seine Schnürsenkel hätte aufbinden können, geschweige denn Zugang zu ihren Gefühlen gefunden hätte. Dafür allerdings legte er tagsüber eine Besserwisserei an den Tag, die nicht nur vollkommen respektlos war, sondern dazu eine passive Aggresivität austrahlte, die von einer selbstbewussteren Persönlichkeit nicht auszuhalten gewesen wäre. 

Doch Frau Barfuss hatte gelernt dies alles mehr oder weniger zu schlucken bzw. es der Einfachheit halber zu ignorieren und zwar in der Weise, dass es ihrem Ehemann nicht einfiel, sich nicht ernst genommen zu fühlen. Im Gegenteil. Für ihn war klar, dass er dee uneingeschränkte intellektuelle Herr im Hause war. 

So hatten sie zusammen eine Form der Symbiose entwickelt, die für wache Menschen zwar unerträglich gewesen wäre, sie aber davor bewahrte, was sie wahrscheinlich beide am meisten fürchteten: Allein zu sein.  

 

Einmal in der Woche ging Frau Barfuss allein auf den Friedhof, das Grab ihrer Mutter besuchen, die schon vor einigen Jahren verstorben war. Sorgfältig kümmerte sie sich dort um die halbhohe, das Grab umgebene Hecke, entfernte die sich bräunlich einfärbenen Blätter, fechelte den Sand vom Grabstein und harkte sorgfältige Streifen in den schmalen erdigen Abständen zu den danebenliegenden Gräbern. Als letztes wechselte sie immer das dunkel flackernde ewige Licht in der braungrün angelaufenen Kupferlaterne aus. 

Nach der ordentlich zeremoniell vollzogenen Säuberung, nahm sie sich die Zeit, ein paar Minuten still am Ende des Grabes zu stehen und die Zeit an sich vorbeilaufen zu lassen. 

Es war nicht so, dass sie dabei an etwas bestimmtes dachte. Es war einfach ihre Art etwas Zeit herauszuschinden, bevor sie wieder nach Hause fuhr. Denn zu Hause wartete ihr Mann. 

Herr Barfuss, war Lehrer gewesen — Gymnasium, Sekundarstufe Eins, Deutsch und Geschichte — doch er hatte es nie geschafft, sich die nötige Autorität bei seinen Schülern zu erkämpfen, so dass er über ein verstecktes Alkoholproblem (ein Schluck klaren Schnapses aus einer kleinen Flasche vor jeder Stunde) zwar nicht suspendiert, aber frühzeitig "beurlaubt" worden war. Und nun saß er ungeduldig deprimiert zu Hause und versuchte seine verloren geglaubte Autorität zumindest vor seiner Frau behaupten zu können. 

 

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